Der Begriff ‹Verhalten› und die Polyvagal-Theorie

Wenn wir bei Menschen von ›Verhalten‹ sprechen, meinen wir meistens das soziale Verhalten. Schließlich sind wir normalerweise nicht die “einsame Eisbärin“ auf der Suche und Jagd nach Futter.

Eine Anlage für soziale Verbindung

Soziales Verhalten wird – aus der Perspektive der PVT – durch das körperlich weitverzweigte Netz der (parasympathischen) Vagusnerven begünstigt. Im Kopfbereich interagiert der Vagus-Nerv mit anderen sog. Kranial-Nerven (cranium = Schädel). Zusammen bilden sie eine “neuronale Plattform“, das von Porges so benannte ‹Social Engagement System› (SES) – hier werden die sozial wirksamen Gesichtsorgane (Augen, Ohren, mimische Muskeln, Stimmorgan, Kau- Saug- und Schluckorgane, Kopfneiger) über das SES mit dem Körper “verdrahtet“ – wobei der Vagusnerv (X. Kranialnerv) die Verbindung zum Autonomen Nervensystem herstellt, welches im Gesamtsystem wiederum als “intervening variable“ (intervenierende Variable) fungiert.

Verhalten und ANS

Weiterhin ist wichtig, dass ‹Verhalten› angeborene Anlagen – so zum Beispiel die Wirkmechanismen des ANS – mitausprägt, die sich im Verlaufe unserer biografischen Entwicklung mit erlernten Verhaltensweisen vermischen. Das Autonome Nervensystem ist dabei ebenso wie bei Empfindungen und Gefühlen ein variabel intervenierender Faktor, der unser Verhalten beeinflusst (s.o.). So ist beispielsweise die sog. Co-Regulation durch die Anlagen des parasympathischen Herunterregelns vermittelt: Wir können uns sozial verbinden, eben weil unser ANS (Autonomes Nervensystem) nicht “mechanisch“ auf soziale Signale reagiert, sondern über den Vagusnerv zu abgestuften Versorgungen unseres (sozial ausgerichteten) Gesamtsystems in der Lage ist.

Im Ergebnis erhalten wir beim ‹Verhalten› einen Vorgang, der sowohl unbewusste, vorbewusste (d.h. teilweise bewusste) als auch bewusste Anteile mit sich bringen kann. Dabei sind die unbewussten und vorbewussten Anteile stärker vom ANS beeinflusst, als die überwiegend bewussten Anteile eines Verhaltens.

Die Wirkmechanismen des ANS

Ein Beispiel: Spreche ich mit einer Freundin am Telefon, musste ich mich möglicherweise selbst dazu motivieren (und “mobilisieren“), weil ich mich kurz zuvor eigentlich zurückziehen wollte. Allerdings sagt mir mein bewusstes (vorausschauendes) Denken, dass ein Rückzugsverhalten heute nicht gut für mich ist. Das implizite Mitspielen des Autonomen Nervensystems hat als intervenierende Variable dabei Einfluss auf mein ‹Verhalten› der Kontaktaufnahme gehabt: Zunächst hat der DVK (Dorsaler Vagus-Komplex) – so die Annahme der PVT – mit dazu geführt, dass mir nach Rückzug und Alleinsein zumute war. Afferente Signale zum Hirnstamm signalisierten dort (eine Folge einer ‹Neurozeption›-von “Gefahr“) eine Dysregulation mit negativen Folgen für die (überlebensnotwendige) Homöostase. Durch diese Signale bin ich aus der Balance zwischen Sympathikus-Mobilisierung und den herunterregelnden Einflüssen des ventralen Vagus herausgefallen.

Eine innere Wegscheide…

Ich stand nun an einer Art inneren “Wegscheide“: Soll ich dem (durch das ANS beeinflussten) Impuls nach Rückzug nachgeben, oder soll ich – eine bewusste Leistung meines Kortex – mich dagegen entscheiden und mich dazu motivieren, mit der Freundin in Kontakt zu gehen. Dafür bräuchte ich wiederum Mobilisierungsenergie des Sympathikus, die mein Rückzugsverhalten sozusagen “überschreibt“ und mir hilft, zurück in einen ventralen Zustand zu kommen. Hier kommt das ‹Social Engagement System‹ (SES) mit ins Spiel (!). Mir ist (als “polyvagal-informierter“ Mensch) bewusst (!), dass meine Einfluss nehmende Neurozeption andere Signale sendet – die (interozeptiv) als Angst und Rückzugsimpuls ausgewertet werden. Doch über Rückzug (dorsaler Zustand) lässt sich das SES allenfalls in einem sehr intimen Austausch mit hineinholen; also benötige ich in dieser Situation mehr ‹Aktivierung›, um bewusst den Kontakt zu suchen, zum Hörer zu greifen, mich zu motivieren und auf eine mobilisierende Energie des ANS zugreifen zu können.

Wir co-regulieren uns durch das ‹Social Engagement System›

Bestenfalls werde ich dann (wenn ich mich für die Kontaktaufnahme motiviert und “mobilisiert“ habe) im Gespräch mit der Freundin ›Co-Regulation‹ finden, sei es durch den prosodischen Verlauf des Gesprächs oder durch die Farben einer emotionalen Stimmlage oder – im Video-Chat – durch ein Lächeln des Gegenübers. Die regulierenden Unterstützungen des SES laufen mit – und werden durch die ‹intentionale› Ausrichtung unseres Systems für soziale Verbundenheit (SES) zu einem bewusst erlebten Prozess, der gleichwohl auch vor- und unbewusste Anteile in sich trägt (z.B. weil wir auf die unbewusst empfangenen Sicherheitssignale des Gegenübers reagiert haben und weiter reagieren).

Diese “intentionale“ Ausrichtung des SES beinhaltet allerdings nicht immer, dass ich ‹volational›, d.h. willentlich in voller Überzeugung handle und kommuniziere. Will sagen: unter (besonderen und schlechten) Umständen kann mein SES auch “intentional wirksam“ werden, ohne dass ich das so will – zum Beispiel wenn ich erpresst oder manipuliert werde. Darüber wird dann im nächsten Blog mehr zu lesen sein.

Michel Ackermann