Polyvagaltheorie

Eine kurze Einführung

Einen guten ersten Einblick in die Arbeit unseres Vagusnervs geben die drei wichtigsten Prinzipien der Polyvagaltheorie. In seiner anspruchsvollen Forschungsarbeit, die vier Jahrzehnte dauerte, stellte sie Dr. Stephen W. Porges zusammen. Sie erklären, wie unser vegetatives Nervensystem funktioniert.

Die Prinzipien der Polyvagaltheorie:

  • Hierarchie – Die hierarchische Reaktionskette unseres autonomen Nervensystems (ANS)
  • Neurozeption – Ein neuer Begriff
  • Co-Regulation – Die Bedeutung für uns als soziale Wesen

Die Hierarchie des ANS

Die Reaktionen unseres autonomen Nervensystems sind hierarchisch aufgebaut. Die Polyvagaltheorie beschreibt, wie die neurozeptiv registrierten (Gefahren-)Signale aus der Umwelt und aus unserem Körper in drei hierarchisch aufeinander folgenden Nervenkreisläufen verarbeitet werden.

  1. Sicherheit:
    Die Signale werden als sicher eingestuft – ventraler Vagusast im Parasympathikus.
  2. Gefahr:
    Die Signale werden als Gefahr eingestuft – Sympathikus.
  3. Lebensbedrohung:
    Die Signale werden als lebensbedrohlich eingestuft – dorsaler Vagusast im Parasympathikus.

Bei Signalen von Gefahr passiert demnach Folgendes: Als erste Reaktion suchen wir instinktiv nach einer Lösung, indem wir nonverbal nach Sicherheit im sozialen Kontakt forschen.

Wenn uns dies nicht gelingt, wird auf der Ebene unseres ANS als nächstes der Sympathikus aktiviert, der unser System in die Mobilisierung schickt und uns mit Kampf-/ Fluchtverhalten reagieren lässt.

Wenn auch dies scheitert und wir keinen Zustand der Sicherheit wieder erreichen bzw. der Gefahrenreiz weiterhin bestehen bleibt oder registriert wird, dann bleibt nur noch der Rückzug in die Dissoziation oder Immobilisierung.

An dieser Stelle ist es wichtig, dass wir Folgendes verstehen: Wenn wir unseren Körper aus einem dorsalen Vaguszustand (ANS interpretiert Lebensbedrohung) zurück in den ventralen Vaguszustand (ANS interpretiert Sicherheit) begleiten wollen, dann müssen wir unseren Körper durch die umgekehrte Reihenfolge der oben genannten Hierarchie begleiten. Das heißt also: von 3 (dorsaler Vagus) über 2 (Sympathikus) bis 1 (ventraler Vagus).

Ein kurzes Erklärvideo zum Thema Trauma vom Polyvagal Institut in den USA und der Trauma Foundation erklärt sehr anschaulich die Funktionsweisen unseres ANS.

Neurozeption

Mit der Neurozeption führt die Polyvagaltheorie einen neuen Begriff ein. Er beschreibt die sogenannte neurozeptive Wahrnehmung, das “unbewusste” Abtasten der Umwelt durch unser Nervensystem. Dies geschieht ohne Einbeziehung bewusster Verarbeitung der neurozeptiv wahrgenommenen Inhalte.

Unser vegetatives Nervensystem interpretiert unwillkürlich spezifische Situationen als ‘sicher’, zum Beispiel eine vertraute Umgebung oder eine bestimmte Mimik und Haltung anderer. Diese Interpretation entwickelt sich bereits in frühem Alter und wird zu einer “Blaupause” für den Rest unseres Lebens.

Menschen sind soziale Wesen und daher spielen Signale von anderen eine wichtige Rolle in dieser neurologischen Wahrnehmung. Wenn jemand verängstigt ist oder wegläuft, sind wir selbst sofort nervös, ohne darüber nachzudenken. Auf diese Weise reagieren wir ständig, unbewusst, auf Signale von anderen Menschen – Mimik, Blick, Stimme, Haltung, Verhalten. In einer sicheren Umgebung bewertet ein traumatisiertes Nervensystem oft neutrale oder sichere Signale unsicher oder bedrohlich und fixiert unseren Körper in einem sympathischen oder dorsalen Zustand.

Die Grundlagen

unserer Co-Regulationserfahrungen werden schon ganz früh gelegt.

Co-Regulation und ihre Aufgabe

Co-Regulierung ist der Prozess, in dem sich zwei oder mehr Menschen kontinuierlich untereinander abstimmen, sich aufeinander ausrichten und Signale der Sicherheit miteinander austauschen. Unser vegetatives Nervensystem ist in enger Verbindung mit dem anderer Menschen (und Säugetiere).

Emotionen und Verhaltensweisen nehmen Gestalt an und werden im gegenseitigen Kontakt angepasst. Co-Regulierung ermöglicht auch, dass eine Person im ventralen Vaguszustand das Nervensystem einer anderen Person positiv in Richtung Entspannung beeinflussen kann.

Wenn Sie mögen, schauen Sie gerne eine kurze Videoeinführung von Dr. Stephen Porges: Was ist die Polyvagal-Theorie?