Im vorangehenden Blog wurde die Sprache als »Alleskönner der Kognition« bezeichnet. Denn unsere Sprache formuliert, transformiert und kommuniziert unsere Sinneseindrücke, um diese unserem Gesamtsystem aus Körperlichkeit und Sprachlichkeit zugänglich zu machen. So gesehen ist unsere Sprache eine Art »sekundäres Sinnesorgan« (Ackermann 2024): Sie integriert unser gesamtes Wahrnehmungssystem (Exterozeption, Interozeption, Propriozeption und auch Signale der sog. Neurozeption [S. W. Porges a. S. Porges 2024]) in einem kognitiven Prozess, der abgleichend-modulierend, aber auch erinnernd und handlungsplanend ausgerichtet ist. Und der vor allem auch der eigenen sozialen Anpassung und Sicherheit dient.

Denkendes Sprechen und sprechendes Denken

Die Arten und Weisen, wie und wo wir leben und wie dort kulturell, sozial und emotional bewertet wird, prägt unser Denken und unsere Sprache aus, wobei das eine das andere stark beeinflusst – die Sprache das Denken und das Denken die Sprache (Boroditsky 2012). Tatsächlich denken und fühlen (!) wir in unterschiedlichen Sprachen unterschiedlich, bis tief hinein in vorbewusste und unbewusste Schichten von Urteilen und normativen Bewertungen hinein. Beispielsweise wird im Spanischen (und auch im Japanischen) der Verursacher eines Missgeschickes selten mitgenannt, es wird also gesagt, dass die Vase zerbrochen ist und nicht, dass der kleine Pablo sie zerbrochen hat: »Se rompió el florero«, heißt wörtlich übersetzt, »Die Vase zerbrach sich.« (Boroditsky 2012).

Was hat aber all das mit der Polyvagal-Theorie zu tun? Nun, unsere Sprache ist nicht nur an unser Lebensumfeld und all seine kulturellen Kontexte irgendwie gekoppelt. Vielmehr wirkt sie als das {oben beschriebene) »sekundäre Organ der Wahrnehmung« in unserem und durch unsere Körper hindurch. Sie ist das kulturell, lebensweltlich und familiär geprägte »Introjekt«, das uns allen innewohnt. Und das hat herausfordernde bis negative, aber auch förderliche und positive Aspekte.

 

 

Unsere verkörperte Sprachlichkeit in Kultur und Technik liefert Gefahren- oder Sicherheitssignale

Leben wir beispielsweise in einer Kultur oder Familie mit harten sozialen Kontrollmechanismen und entsprechend starken negativen Rückmeldungen bei Abweichungen unseres Verhaltens und unserer Sprachlichkeit (Tonfälle, Ausdrucksweisen und symbolisch-sprachlichen Handlungen der Sprache), wird unser vorsprachlich verankertes Gefahrenabwehrzentrum, die Neurozeption, Alarm schlagen: Unser (sprachlich-bewusstes) Wahrnehmungssystem empfängt Gefahrensignale, sei es durch Stressgefühle, sei es durch Angstreaktionen, ausgelöst durch die Amygdala, die ihrerseits mit den perzeptiven Sprachverarbeitungen der Prosodie verbunden ist, aber auch mit visuell verarbeitenden Perzeptionen (also z.B. reagierend auf »böse Blicke«).*1 (Kemmerer 2022).

Unsere Sprache und Sprachlichkeit ist heutzutage auch zunehmend stärker mit der allumfassenden Technisierung und Digitalisierung verbunden, vor allem mit der einhergehenden Dezentrierung unserer übergreifenden Wahrnehmungsorientierung, wie wir sie tagtäglich durch die Ablenkungen von Smartphones und anderen technischen Geräten erleben.

Denn Wahrnehmung, Denken und Sprache hängen auf engste Weise zusammen. Sie können das durch ein einfaches Experiment an sich selbst testen: Richten Sie Ihren Hals und Kopf in unterschiedlichen Neigungen und Drehungen aus (nach oben, nach unten, seitlich aufwärts links, aufwärts rechts etc.). Denken Sie dabei den Satz: »Das Wetter ist heute wieder furchtbar!« und nehmen Sie dabei jeweils Ihre körperlichen und emotionalen Empfindungen wahr. Wiederholen Sie dann den Vorgang und sprechen den vorher gedachten Satz nun laut vor sich hin – und führen dabei wieder die Hals-Kopf-Neigungen durch. Wie fühlt sich der Satz, jeweils gedacht oder laut gesprochen, an, wenn z.B. Hals und Kopf nach unten geneigt sind? Wie, wenn sie seitlich nach links oder rechts oben schauen? Können Sie Unterschiede beschreiben?

Die meisten Menschen werden den (negativen) Satz je nach Hals- und Kopfneigung unterschiedlich wahrnehmen. Denn die Nervenbahnen unserer Hals- und Kopfneigung (11. Hirnnerv – der Nervus accessorius des in der Polyvagal-Theorie so bezeichneten »Social Engagement Systerms«) sind mit dem autonomen Nervensystem verbunden, welches wiederum mit dem Stamm-Hirn und der auch dort angeschlossenen Sprachverarbeitung interagiert.

Unser Körper fungiert als sozial-integrierendes Sprachwahrnehmungssystem

Unser Körper kann also als ein sozial-integrierendes Sprachwahrnehmungssystem verstanden werden. Die Sprache selbst fungiert dabei als (positiv oder negativ wirksame) »Internalisierung« einer assistierenden Wahrnehmungsauswertung. Nicht von ungefähr wurde (und wird) Sprache – dort, wo sie noch nicht dualistisch-denkend vom Körper abgeschnitten ist – in vielerlei Sprachritualen körperlich stabilisiert: In Chören, in Chants und Dichtungen, Mantren und anrufenden Gebeten, bis hin zu Tänzen (die auch eine symbolische Form der Sprachlichkeit sind). Wir treffen in vielen Kulturen also auf Formen einer (rituell und performativ) »verkörperten Sprachlichkeit«, – Formen, die nach einer Art körperlich-sprachlich angeregten Homöostase streben.

In psychisch-sprachlich*2 und performativ-technisch herausfordernden Kulturen findet hingegen eine (in meinen Augen oft auch manipulative) »Versprachlichung des Körpers« statt, – also eine versprachlichte Körperlichkeit statt einer verkörperten Sprachlichkeit: Ideologien, wahrnehmungslenkende Technik, verallgemeinernde und hochemotionale Narrative dringen in uns ein (dies ist zumindest ein Blickwinkel an dieser Stelle). Ein Heer von Berater:innen, Coaches und Psycholog:innen tritt alsbald auf die Bildfläche, um die Schäden, die durch eine solche versprachlichte Form der »beschädigten« Körperlichkeit entstanden sind, wieder zu reparieren.

Es soll hier aber keine Romantisierung zurück zu den »ursprünglichen« Kulturen betrieben werden, – Kulturen, die als hochtechnisierte Massengesellschaft ja auch so in der Regel wenig vorstellbar sind. Vielmehr geht es mir hier um den Hinweis, dass wir in gleichermaßen durchtechnisierten und durch-emotionalisierten Lebensumfeldern fortlaufend auf spezifische Weise »desintegriert« werden, bis hin zu »dissoziiert«: Unser Denken und unsere Sprache darin lösen sich von unserer körperlichen Gesamtwahrnehmung ab. Wir geraten in dualistische Weltsichten und Selbsterfahrungen, die wir postwendend »ganzheitlich« wieder zu heilen versuchen – und um dabei doch wieder in der Aufspaltung zu landen (vgl. Ackermann 2024, Carl-Auer).

Bottom-Up und Top-Down

Die Polyvagal-Theorie gibt uns die Chance, unsere körperlich verankerte Sprachlichkeit auch »bottom-up« wahrnehmen zu lernen: Nicht nur unser sprechend-denkendes Gehirn reguliert und kontrolliert den Körper, sondern unsere körperlich verbundene Sprachanlage kommuniziert dem Gehirn in Feedbackschleifen (bottom-up und top-down), wie es in der Lage sein kann, sprachliche, denkende, wahrnehmende und implizit körperliche Impulse auf entspannte Weise zu verbinden: Es ist, als ob wir in unserer Sprache einen sozial-zugewendeten Tanz aufführen, indem wir Sprachlichkeit und Körperlichkeit über stärkeren Selbstausdruck, aber auch über eine Art der »Wahrnehmungswahrnehmung« (von Sprache in unserem Körper) zusammenführen. Sprachlichkeit und Körperlichkeit »tanzen« miteinander.

Wir können unsere Sprachanlagen aus unserer Körperlichkeit und unserem körperlichen Gewahrsein erwachsen lassen, sie auf spürsame Weise aus dem Körper erklingen lassen, indem wir unsere autonome Regulation via Interozeption mit unserer körperlich verankerten Sprachfähigkeit verbinden können: Wir werden auf diese Weise zu sprachlich-verbundenen und körperlich-angebundenen Beziehungswesen.

Im nächsten Blog soll (u.a.) anhand weiterer Beispiele aus der Neuropsychologie der Sprachverarbeitung gezeigt werden, wie unser sensomotorischer Kortex in der Lage ist, die emotionalen Melodien der sprachlichen Prosodie in sich abzubilden und daraus Erkenntnisse über den emotionalen Zustand des Gegenübers zu gewinnen. Auch diese Prozesse sind über den Hirnstamm mit dem autonomen Nervensystem verbunden.

Michel Ackermann, im November 2024

*1 Die Amygdala resagiert allerdings nicht auf jeden »schrägen« Tonfall mit Angstsignalen. Hier scheint es auch adaptive Prozesse zu geben, heißt, wir gewöhnen uns an harte Tonfälle. Auch spielt wohl eine vorveranlagte Vulnerabilität eine Rolle oder auch ein persönlichkeitsbedingter Neurotizismus, der auf jeden Tonfall mit Alarm und Angst reagieren kann.

*2 Der «moderne« Mensch wird sich, ungefähr seit der Neuzeit und in zunehmenden Maße seit dem 20 Jhd., nicht nur symbolisch-sprachlich einordnen. Vielmehr geht es nun auch um eine psychisch-sprachlich zu bestimmende Individualität, die Selbstfindung und Optimierung: der Mensch (er)findet (und verortet) sich in seiner Sprachlichkeit weniger symbolisch, als vielmehr psychisch-technisch-kulturell. Dadurch steigt der soziale Stress …