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Stockholm-Syndrom als Definition einer Überlebensstrategie
European Journal of Psychotraumatology , Volume 14, 2023 – Issue 1. Rebecca Bailey, Jaycee Dugard, Stefanie F. Smith & Stephen W. Porges
Die deutsche Zusammenfassung:
Hintergrund: Das Stockholm-Syndrom oder traumatische Bindung (Painter & Dutton, Patterns of emotional bonding in battered women: Traumatic bonding. International Journal of Women’s Studies, 8(4), 363-375, 1985) wurde in der Mainstream-Kultur, im Rechtswesen und in einigen klinischen Bereichen verwendet, um ein hypothetisches Phänomen zu beschreiben, bei dem Überlebende eines Traumas eine starke emotionale Bindung zu der missbrauchenden Person entwickeln. Es wurde häufig verwendet, um die angebliche “positive Bindung” zwischen einigen Entführungsopfern und ihren Entführer:innen zu erklären, obwohl diese Behauptung kaum durch empirische Untersuchungen gestützt wurde. Es wurde in verschiedenen Situationen verwendet, in denen von zwischenmenschlicher Gewalt und Gedankenkontrolle berichtet wird und in denen eindeutige Machtunterschiede bestehen, wie z. B. bei sexuellem Kindesmissbrauch, Gewalt in der Partnerschaft, Menschenhandel und Geiselsituationen.
Zielsetzung: Wir schlagen vor, das Stockholm-Syndrom durch “Appeasement” zu ersetzen, einen Begriff, der durch ein biopsychologisches Modell (d. h. die Polyvagal-Theorie) erklärt werden kann, um zu beschreiben, wie Überlebende emotional mit ihren Täter:innen verbunden erscheinen können, um sich effektiv an lebensbedrohliche Situationen anzupassen, indem sie den Täter oder die Täterin beruhigen.
Schlussfolgerung: Wir glauben, dass der Begriff Appeasement die berichteten Erfahrungen von Überlebenden entmystifizieren wird und in den Augen der Öffentlichkeit, der Opfer und der Überlebenden eine wissenschaftlich fundierte Erklärung für ihre Erzählungen vom Überleben liefert, die zunächst widersprüchlich erscheinen mögen. Durch das Verständnis der starken reflexiven neurobiologischen Überlebensmechanismen, die in der Beschwichtigung eingebettet sind, können Einzelpersonen und Familien ihr Überleben aus einer Perspektive operationalisieren, die Resilienz und eine gesunde langfristige Genesung unterstützt und ihre Bewältigungsreaktionen als Überlebenstechniken normalisiert.