Verhalten dient auch dem Überleben

Die Komplexität menschlichen Zusammenlebens erlaubt manchmal keine klaren Verhaltensantworten, im Sinne von Kampf oder Flucht oder im Sinne eines klar ausgerichteten Verhaltens der Zuwendung und Verbindung. Vielleicht mussten wir sogar lernen, in einer Situation der Bedrohung zu überleben und uns dabei anzupassen, indem wir versuchen, mit dem Angreifer “in Verbindung“ zu gehen und das auch zu bleiben. Wie aber kann das funktionieren, wenn unser Körper uns doch längst in die reflexhaft ablaufenden Überlebensantworten schicken müsste? (Kampf, Flucht, Freeze, Shut-Down) – und wir uns, trotz eindeutiger Bedrohungslage im Verhalten “sozial angepasst“ orientieren.

Hier scheint es also, aus der Perspektive der PVT, im wesentlichen zwei verschiedene Antworten unseres Körpers zu geben: die des Körpers, der in der (lebens)-bedrohlichen Situation “auf seine Weise“ die Regie übernimmt und vom Autonomen Nervensystem in dieser Überlebensantwort unterstützt wird. Ebenso gibt es die intentional (was nicht ›volational‹ heißen muss) gesteuerten Anteile als kortikalem (“top-down“)-Prozess des Verhaltens – wohingegen die erste Überlebensantwort (die “autonom“ agierende) subkortikale Signalpfade nutzen wird.

Fawning

Beim sog. “fawning“ handelt es sich um ein Unterwerfungsverhalten gegenüber dem ›Angreifer‹ bzw. der lebensbedrohlichen Situation. Diese Unterwerfung benötigt eine (innere und äußere) “Mobilisierung“ des Verhaltens. Es handelt sich – in gewisser Perspektive – um ein “verunmöglichtes“ Kampf-Flucht-Verhalten, bei dem sich ein sozialer Kontakt in einem (unterwerfungs)-Verhalten gewisswermaßen “tarnt“. Das parasympathische Herunterregeln wird hier mit dem dorsalen Vaguskomplex einhergehen bzw. durch diesen parasympathischen Signalpfad mit beeinflusst sein – und bedeutet nach dieser Konzeption auch, dass beim “fawning“ ein innerer Rückzug des ‹Selbst› mit traumatisch-dissoziativen Anteilen vorliegt, eben weil es ein “Überlebensmodus“ ist, der kein (ventral)-reguliertes Kontaktaufnehmen impliziert).

Appeasement

Beim sog. “appeasement“ liegen die Dinge anders. Erstaunlicherweise lässt unser Körper es zu, dass wir in einer lebensbedrohlichen Situation Zugang zu unserem ›System sozialer Verbindung‹ (SES) halten können. Das bedeutet, dass unser uns offen und verbunden ausrichtende ventrale Vagus weiter aktiv bleibt – und nicht (wie beim “fawning“) in die (dorsal getriggerte) Not-Steuerung des Verhaltens “umschaltet“. Es liegt also eine Überlebensstrategie vor, bei der Körper und Gehirn eine hochkomplexe Antwort gefunden haben: ›Ver-bindung‹ bleibt auch unter Lebensgefahr möglich. Wir bleiben sozial regulierend und können nicht “auf der autonomen Leiter“ in ein reflexhaftes Kampf-Flucht-Verhalten geraten, weil uns das einer (noch größeren) Existenzgefährdung aussetzen würde. Vermutlich spielen hier Einflüsse einer (wie auch immer) “bewussten“ und möglicherweise gleichzeitig dissoziierend vor sich gehenden Steuerung höherer Gehirn-Areale des Neo-Kortex eine Rolle: Wir können die Lebensgefahr “ausblenden“ (und abwenden) und unser Körper führt uns in diesem Moment (in dieser Situation) in die sicherste Überlebenstrategie, die wir – eine Folge einer hoch einfühlsamen und situativ ausgerichteten Gesamt-wahrnehmung – als Verbindungsaufnehmen in einem Zustand umsetzen, wo in Überlebenszuständen unserer autonomen Regulation (Sympathikus und Dorsaler Vagus Komplex) dennoch ein Zugang zum ›Social Engagement System‹ erhalten bleibt. Wir gehen in eine reale, dem Angreifer als ›sicher‹ mitgeteilte, Verbindung, um diesen befrieden (“appease“) und um überleben zu können.

Verhalten – zwischen Mobilisierung und Überlebensmodus

Da unsere autonome Regulation in aller Regel in “Mischzuständen“ und in einem vielschichtige Zusammenspiel mit bewussten, vorbewussten und unbewussten Verhaltenweisen stattfinden wird, können wir davon ausgehen, dass unsere Selbstregulation im diesem Zusammenspiel ein komplexes Selbstempfinden in sozialer Kommunikation erfordert. Denn es gibt Situationen, in denen wir nicht genau spüren, ob wir uns bereits in einem Kampf-Flucht-Modus befinden, oder einfach “nur“ im angeregten (mobilisierten) Kontakt: Soziale Kommunikation ist kein “on“-“off“, sondern ein komplexes Übergangsgeschehen zwischen Zuständen, die in einem dyadisch ausgerichteten System zwischen dem Körper (ANS) und dem Gehirn wirksam werden.

Verhalten und Wahrnehmung

Darüberhinaus können wir unser eigenes Verhalten (als solches) wahrnehmen, – auch dann noch, wenn z.B. in einer Panik-Reaktion unser Körper die Kontrolle über das Verhalten übernommen hat. Ebenso ist es möglich, sich selbst in einem kollabierten Zustand (siehe oben) noch zu spüren – irgendeinen Punkt des eigenen ‹Selbst› (ggf. auch in einem dissoziierten Zustand) noch “mitzube-kommen“. Diese Einbeziehung unserer bewussten oder vorbewussten Wahrneh-mungssysteme festzustellen, ist wichtig, weil unser Verhalten als solches “reflexhaft“ ausgelöst werden kann. Oder es “unterläuft“ uns, z.B. wenn wir morgens anfangen vor uns hin zu summen, ohne dass wir das “bewusst“ so geplant haben. Auch, wenn wir spontan einen geliebten Menschen in den Arm nehmen, weil unser ›System sozialer Verbindung‹ uns eben “in Richtung Verbindung“ geführt und unterstützt hat. All diese Verhaltensweisen können wir als unsere eigenen wahrnehmen, ohne im Einzelnen oft festzustellen, ob wir sie “geplant“ hatten, sie wirklich so “wollten“ oder ob sie sich sozusagen “in-uns-selbst-eingestellt“ haben, ohne dass wir das bewusst so geplant und “gewollt“ hätten. Will sagen: Manches Verhalten passiert uns ›intentional‹, ohne dass wir das im engeren Sinn bewusst so wollten – z.B. weil es ein implizit erlerntes, hoch angepasstes Verhalten ist. Oder weil unser Körper (im Zusammenspiel mit subkortikalen Regionen des Gehirns) schneller entschieden hat, als unsere “langsameren“ Planungsareale im Neo-Kortex des Gehirns das hätten “erledigen“ können.

Fazit und Ausblick

In diesem zweiten Blog einer Reihe zu Aspekten und Konzepten der Polyvagal-Theorie wurde versucht, aufzuzeigen, inwiefern unsere Überlebensantworten in (sozial) bedrohlichen Situationen besondere Verhaltensweisen aufweisen können. Diese Verhaltensweisen sind einerseits durch das Autonome Nervensystem beeinflusst, indem das ANS über die körperlich, vorsprachlich und vorbewusst reagierende ›Neurozeption‹ Signale afferent zum Hirnstamm sendet. Dort wird ein Zusammenspiel des Körpers mit weiteren (subkortikalen) Hirnarealen induziert – ein Zusammenspiel, welches eben die beschriebenen Überlebensantworten unterstützt. Gleichzeitig bleiben efferente Signalpfade unserer bewussten Wahr-nehmungsvorgänge und ihrer Auswertung im Kortex eine MitspielerIn im System. Die beschriebenen Verhaltensweisen (fawning und appeasement – letzteres relevant beim sog. “Stockholm-Syndrom“) sind aber (trotz unserer ›Bewusstheit‹ während ihres Auftretens) durch die körperlichen Verhaltensantworten (der Neurophysiologie des ANS) ausgelöst und bestimmt – denn beide sind Überlebensantworten und nicht volationale Entscheidungen einer selbstwirksamen und freien Handlung.

Im nächsten Blog soll es darum gehen, welchen Einfluss das Autonome Nervensystem (im Blickwinkel, der PVT) auf unsere sprachlichen Handlungen und die daraus resultierende Kommunikation haben kann. Der Stichwort ist hier: “State makes Story“ – das heißt, die Signale unseres Körpers (unseres ›Autonomen‹ Zustandes) sorgen dafür, dass wir, auf ihnen aufbauend, eine Geschichte erzählen – wer wir selbst sind, und wie und warum wir einen präzisen Ausdruck unserer Körperlichkeit in den Wegen unserer Sprachlichkeit wiederfinden.

Michel Ackermann