Neurozeption – wie sie unser Verhalten und unsere Emotionen beeinflusst
Hast du dich schon einmal gefragt, warum du dich in manchen Situationen sofort unwohl fühlst, ohne zu wissen, warum? Oder warum dir manche Menschen von Anfang an vertrauenswürdig erscheinen, während du bei anderen instinktiv auf Distanz gehst? Diese unbewussten (oder vorbewussten) »Instinkte« entstehen durch einen faszinierenden Mechanismus in unserem Nervensystem: die Neurozeption.
Unser Verhalten und unsere Emotionen werden nicht nur durch kognitive Prozesse im Neocortex gesteuert.
Neurozeption bedeutet in der Konzeption der Polyvagal-Theorie, dass unser autonomes Nervensystem (ANS) permanent unsere Umgebung nach Sicherheits- oder Bedrohungssignalen scannt – unterhalb unserer bewussten Wahrnehmungsschwelle. Unser Verhalten und unsere Emotionen werden also nicht nur durch kognitive Prozesse im Neocortex (Großhirn) gesteuert, sondern sind ganz wesentlich auch durch unbewusste Prozesse der Wahrnehmungsverarbeitung beeinflusst: Unser ANS arbeitet dabei mit subkortikalen Arealen im Gehirn (Limbisches System, Zwischenhirn und Hirnstamm) zusammen und wertet die überlebenswichtige Signale in Feedbackschleifen mit diesen Arealen aus.
Der Begriff Neurozeption beschreibt also Auswertungsprozesse unseres autonomen Nervensystems im Zusammenspiel mit subkortikalen Gehirnarealen. Durch die Neurozeption erfährt unser Körper frühzeitig, ob eine Situation als sicher, gefährlich oder lebensbedrohlich einzuschätzen ist. Unser autonomes Nervensystem trifft diese situative Einschätzung blitzschnell, noch bevor unser Verstand überhaupt rational darüber nachdenken kann. Dabei unterscheidet es zwischen drei grundlegenden Zuständen:
• Sicherheit & soziale Verbundenheit → Unser ventraler Vagus ist aktiv, wir fühlen uns entspannt, offen und in Verbindung mit anderen.
• Gefahr (Kampf oder Flucht) → Unsere Vagusbremse ist gelöst, der Sympathikus vorrangig aktiv und unser Körper mobilisiert Energie, um sich zu verteidigen oder zu entkommen.
• Lebensbedrohung (Erstarrung & Kollaps) → Der dorsale Vagus übernimmt, der Körper fährt herunter, wir fühlen uns z.B. kraftlos oder auch »dissoziiert«, heißt, von uns selbst abgekoppelt.
Die Reaktion des ANS ist nicht nur von der realen Situation abhängig, sondern auch von unseren Vorerfahrungen.
Diese Zustände werden nicht durch bewusstes Denken gesteuert. Sie sind eine unwillkürliche Reaktion auf Signale aus unserer Umwelt, – aber auch auf in uns verankerten (»gespeicherte«) Erinnerungen an frühere Bedrohungslagen. Die Reaktion ist also nicht nur von der realen Situation abhängig, sondern auch durch unsere Vorerfahrungen und allgemeinen Anlagen (wie die Fähigkeit zur Resilienz) mitbestimmt.
Wie die Neurozeption unser Verhalten beeinflusst
Da unser Nervensystem die Welt ständig auf Sicherheit oder Bedrohung hin überprüft, beeinflusst Neurozeption unser Verhalten auf tiefgreifende Weise.
👉 Soziale Situationen: Unser Gesichtsausdruck, die Tonlage unserer Stimme und unsere Körperhaltung senden Signale aus, die von anderen unbewusst wahrgenommen werden. Ein warmer, offener Blick und eine ruhige Stimme (Prosodie) signalisieren Sicherheit und laden zur Interaktion ein. Ein starrer Blick oder eine monotone Stimme können hingegen unbewusst als bedrohlich empfunden werden.
👉 Emotionale Reaktionen: Wenn unser Nervensystem eine Bedrohung »wahrnimmt«, bevor unser Verstand es registriert, färbt dies unsere emotionalen Reaktionen. Wir reagieren dann z.B. mit Angst, Ärger oder Rückzug – auch wenn die Situation objektiv vielleicht gar nicht (so) bedrohlich ist.
👉 Beziehungen: Neurozeption beeinflusst, wie wir Beziehungen und Bindungen eingehen. Wenn unser Nervensystem aufgrund früherer Erfahrungen (vor)schnell auf eine als bedrohlich erlebte Situation reagiert, kann es uns schwerfallen, Nähe und Vertrauen zuzulassen. Menschen mit traumatischen Erfahrungen erleben häufig eine überempfindliche (oder auch: »missgestimmte«) Neurozeption – sie nehmen neutrale oder sogar freundliche Situationen als potenziell gefährlich wahr.
Warum wir Bedrohung manchmal »verzerrt« wahrnehmen
Neurozeption basiert auf Erfahrungswerten unseres Nervensystems – und diese können manchmal zu verzerrten (oder zumindest: sehr subjektiven…) Auswertungen führen. Denn unser Nervensystem entscheidet nicht rational, sondern reagiert basierend auf erinnerten (»gespeicherten«) Mustern aus der Vergangenheit. Spannender Weise können wir gerade am Konzept der »Neurozeption« besser begreifen, was Erinnerung – in Bezug auf biografische Erfahrungen – bedeutet: Erinnerung ist ein interaktiver Austauschprozess zwischen Körper, Gehirn und Umwelt. Signale aus einer realen Situation (oder auch dem realen Erleben einer fiktiven Situation, z.B. in einem Film) werden mit vergleichbaren (biografischen) Erfahrungen abgeglichen und ausgewertet:
📌 Beispiel: Ein Kind, das in einer Umgebung aufgewachsen ist, in der laute Stimmen oft mit Streit oder Bedrohung verbunden waren, könnte als Erwachsener instinktiv zusammenzucken oder sich unwohl fühlen, wenn jemand in einem energischen Ton spricht, auch wenn in dieser Situation keine echte Gefahr besteht.
Solche »Fehlwahrnehmungen« können in sozialen Interaktionen herausfordernd sein, weil unsere Neurozeption (unser ANS im Zusammenspiel mit dem Limbischen System, u.a.) schneller reagiert als unser bewusster Verstand. Wir interpretieren das Verhalten anderer aus unserer eigenen »neurozeptiven Brille«, – und diese ist von unseren individuellen Erfahrungen geprägt.
Wie wir Neurozeption beeinflussen können
Die gute Nachricht: Wir sind unseren unbewussten Reaktionen nicht ausgeliefert! Durch bewusstes Training können wir unser Nervensystem darin unterstützen, zwischen tatsächlicher und vermeintlicher Bedrohung zu unterscheiden.
✅ Achtsamkeit & Selbstwahrnehmung – Durch bewusstes Wahrnehmen unserer körperlichen Reaktionen (z. B. schneller Herzschlag, Engegefühl in der Brust, plötzliche Spannungsgefühle im Nacken) können wir lernen, unsere Neurozeption zu entschlüsseln.
✅ Sichere soziale Interaktionen – Positive zwischenmenschliche Erfahrungen helfen, unser Nervensystem neu zu »kalibrieren«. Wenn wir – auch durch das Aussenden eigener Sicherheitssignale – »Antworten« der Mitwelt erleben, die freundlich und wohlwollend sind, wird sich unsere Wahrnehmung von Sicherheit verstärken.
✅ Polyvagal-informierte Übungen – Bestimmte Techniken wie sanfte Bewegung, bewusstere Atmung oder Stimulation des Vagus-Nervs können helfen, unser Nervensystem in einen Zustand größerer Flexibilität zu bringen, was uns resilienter werden lässt.
Was die Graphic Novel dazu zeigt
Die Graphic Novel Über das Herz zur Polyvagal-Theorie veranschaulicht, wie unser autonomes Nervensystem unbewusst (und manchmal vorbewusst spürbar) mit der Umwelt kommuniziert, auf sie reagiert, – und wie sich das auf unser psychophysisches Erleben auswirkt. In »sprechenden« Bildern und Geschichten macht sie sichtbar, wie wir uns durch Körperwahrnehmung und soziale Verbundenheit mit uns selbst und mit anderen Menschen (co)-regulieren können.
👉 Lust, mehr zu erfahren? Im nächsten Blogbeitrag geht es um Interozeption – also die Kunst, unsere inneren Signale zu spüren und zu deuten. Denn wer sich selbst besser wahrnimmt, kann auch seine Emotionen und sein Wohlbefinden gezielt beeinflussen.
Urheberrecht: © 2024, Probst-Verlag
Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Probst-Verlags.